Achtsam im Stress
Vom Bewertungsprozess zur Stressreaktion - Teil 2
In meiner Serie “Achtsam im Stress” soll es heute im zweiten Teil darum gehen, wie unser Gehirn Situationen bewertet und welche Stressreaktionen wir gewohnheitsgemäß und evolutionsbedingt zeigen.
Wir schauen uns an, was genau in unserem Gehirn passiert, wenn wir mit herausfordernden Situationen konfrontiert sind und wie es dazu kommt, dass wir entweder abgehen wie ein HB-Männchen, obwohl es uns hinterher Leid tut, in der Ecke sitzen und den Mund nicht aufkriegen, obwohl es für uns so wichtig wäre oder wir einfach nur verschwinden und uns zurückziehen wollen, wenn es uns zu viel wird.
Stressreaktionen sind abhängig von einer inneren unbewussten Bewertung
In uns laufen ständig Bewertungsprozesse ab, die wir überhaupt nicht mitbekommen. So bewertet unser Organismus zunächst, ob er eine Situation als bedrohlich erlebt oder nicht. Also ob in dieser Situation ein gewisses Stresspotential bzw. Verletzungspotential für uns besteht. So ein Verletzungspotential muss nicht unbedingt bedeuten, dass wir tatsächlich physisch verletzt werden. Es kann auch sein, dass unser Organismus uns z.B. vor Konflikten schützen will, der erwarteten Ablehnung anderer oder auch vor erwarteten Sanktionen bei Versagen.
„Kopf, Bauch und Herz – Eine kurze Erklärung am Rande
Vielleicht ist Dir aufgefallen, dass ich in meiner Wortwahl immer wieder zwischen Gehirn und Organismus wechsel. Das liegt daran, dass wir durch viele Studien Anhaltspunkte dafür bekommen haben, dass unser Gehirn quasi als Schaltzentrale fungiert und viele Prozesse dort ablaufen. Gleichzeitig gibt es immer mehr Studien in Bezug auf unseren Darm und unser Herz, die zeigen, dass die Unterscheidung im Sprachgebrauch von Kopf, Herz und Bauch gar nicht so doof war und auch diese beiden etwas mit unserer Psyche zu tun haben und damit eventuell auch Einfluss nehmen auf unsere Stressreaktion und nicht nur durch unsere Stressreaktionen beeinflusst werden.“
Je nachdem, ob mein Organismus die Situation als Stresssituation oder als nicht bedrohlich eingestuft hat, werde ich entweder ruhig bleiben oder aber mit einer entsprechenden Stressreaktion darauf reagieren.
Hat der Organismus die Situation als Stresssituation, also als potentiell bedrohlich, eingestuft, geht es für ihn darum eine adäquate Stressreaktion zu finden.
Die drei großen Stressreaktionen: Angriff, Fluch und Starre
Früher ging man in der Psychologie von zwei Stressreaktionen aus: “fight” und “flight”, also Angriff oder Flucht. Mittlerweile weiß man, dass wir noch eine dritte gewohnheitsmäßige Stressreaktionen haben nämlich “freeze”, die Starre. Diese drei Stressreaktionen sind evolutionsbiologisch bedingt und bei allen Menschen prinzipiell angelegt.Hoffnung und Aussichtslosigkeit als entscheidender Wert
Die beiden Stressreaktionen Angriff und Flucht haben etwas mit Hoffnung zu tun.
Wenn ich unbewusst glaube, die Situation in irgendeiner Weise verändern zu können, dann wird in unserem Gehirn das Programm Angriff gestartet.
Wenn ich glaube, der Situation ausweichen zu können, dann wird in unserem Gehirn das Programm Flucht aufgerufen und ausgeführt.
In beiden Fällen kam mein Gehirn vorher zu dem Ergebnis, dass es eine Möglichkeit gibt, der Stresssituation, so wie sie ist, zu entkommen – entweder durch Veränderung oder durch Rückzug.
Der Bewertungsprozess im Überblick
Hierfür bezieht mein Organismus das Ergebnis meiner früheren Erfahrungen und dadurch entstandene Glaubenssätze über mich und meine Umwelt mit ein. Hat es für mich früher funktioniert, mich aus der Situation herauszunehmen? Konnte ich mich z.B. dem Konflikt entziehen, indem ich bei einem Streit mit meinem Mann oder meiner Frau den Raum verlassen habe oder hatte ich mehr Erfolg, wenn ich ihr/ihm genauso deutlich meine Meinung vor den Latz geknallt habe? Oder war es die beste Lösung einfach da zu sitzen und die Tirade über mich ergehen zu lassen?
- ob die Situation bedrohlich erscheint oder nicht
- ob die Situation dann wiederum als aussichtslos eingestuft wird oder ob mein Organismus davon ausgeht, dass noch Hoffnung besteht
- welche der Reaktionen mein Organismus für erfolgversprechend hält
Einfluss von Stressreaktionen auf die Bewertung
Bei dieser Berechnung kann es sein, dass eine bestimmte extreme Situation oder auch wiederkehrende Extrembelastungen ähnlicher Form einen überdimensional großen Einfluss auch bei eigentlich wenig belastenden Situationen haben und somit unser Verhalten enorm beeinflussen.
Wenn ich zum Beispiel als Kind gelernt habe, dass es egal ist, was ich mache, weil mein Vater immer am längeren Hebel sitzt, kann es sein, dass diese “erlernte Hilflosigkeit” sich heute in meinen Alltag und in viele Beziehungen überträgt. Ich reagiere dann unter Umständen mit Starre, obwohl die Situation nicht einmal bedrohlich, geschweige denn hoffnungslos ist. Ich habe das Gefühl, mich nicht behaupten zu können, mich nicht zu trauen, mit Menschen in Kontakt zu gehen, etc..
Stressreaktionen bewusst machen
Heute ging es darum, die drei großen Stressreaktionen Angriff, Flucht und Starre besser zu verstehen und den unbewussten Bewertungsprozess des Gehirns kennenzulernen.
Da die Situation ja unbewusst und in Millisekunden bewertet wird und dann quasi ein unbewusstes Programm gestartet wird, in dessen Grenzen unsere Reaktion abläuft, möchte man meinen, dass wir gar keinen Einfluss darauf haben, wie wir in den Stressreaktion reagieren.
Das stimmt so nicht. Es bedeutet vielmehr, dass wir, wenn wir uns den unbewussten Bewertungsprozess in der Stressreaktion bewusst machen, nach und nach mehr verstehen können, was passiert. Wir können erkennen, welche Glaubenssätze und Erfahrungen Grundlage der Entscheidung sind. Diese Glaubenssätze und Situationen, die für die Evaluation der Situation benutzt werden, achtsam wahrzunehmen, zu erkennen und anzunehmen, ohne mich dafür zu verurteilen, ist der erste Schritt, um mich von den unbewussten Reaktionen zu befreien.